Einleitung
 

1. Eine Theorie des Sehens – was soll das sein?

In den hier gezeigten Bildern und Texten versuche ich, eine Grundlagentheorie des Sehens zu formulieren.

Sie soll die Vielfalt visueller Phänomene systematisch darstellen und möglichst leicht überschaubar machen.

Die systematische Gliederung hat den Sinn, Sehen als einen Gesamtzusammenhang mehrerer, aufeinander aufbauender Sehfähigkeiten erkennbar werden zu lassen. Diese einzelnen Sehfähigkeiten lassen sich unterscheiden anhand der je speziellen Phänomentypen, die mit ihnen wahrgenommen werden – anhand fähigkeitsspezifischer Sichtbarkeiten.

Was der Begriff Sichtbarkeit dabei sinnvollerweise umfassen muss, könnte man als die Kernfrage der Theorie bezeichnen. Denn Sichtbarkeit ist kaum begreifbar, wenn man sie auf bloße Flächenzustände des Blickfeldes reduziert. Bekanntlich kann ein und derselbe gegenwärtige Anblick verschiedene Schlussfolgerungen zum Vorher und verschiedene Erwartungen zum Nachher plausibel erscheinen lassen. Ein und derselbe Blickfeldzustand kann im sehenden Subjekt mehrere verschiedenartige und eventuell widersprüchliche Deutungen des Gesehenen auslösen. Auch die Fähigkeiten, Deutungsaspekte visuell zu erkennen, aufeinander zu beziehen und gegeneinander abzuwägen, lassen sich daher aus dem Begriff des Sehens kaum ausgrenzen.

Das heißt: Sichtbarkeiten erschöpfen sich nicht in Farben, Formen und Bewegungen. Sichtbarkeit schließt vielmehr die Bedeutungsmöglichkeiten ein, die ein Subjekt zur Unterscheidung bestimmter Strukturen im Blickfeld überhaupt erst motivieren. Dies ist die Ausgangshypothese der Theorie, die an ihrem Anfang ausführlich dargestellt und in ihrem Verlauf entlang zunehmender visueller Komplexität systematisch untersucht wird.

Zunehmende visuelle Komplexität, zunehmend spezielle Bedeutungsaspekte

Verschiedene Typen von Anblicken – visuelle Phänomene – in diesem bedeutungsunterscheidenden Sinne darzustellen und zu ordnen ist also der wesentliche Stoff der Theorie.

Den Aufwand, einen Erfahrungsbereich, so gut es geht, begrifflich zu systematisieren, treibt man natürlich in der Hoffnung, dass das sich am Ende zeigende Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile. Ob er sich gelohnt hat allerdings, weiß man leider erst am Schluss, wenn sich erkennen lässt, inwieweit die Systematisierung neue Einsichten gebracht hat. Es ist wie beim Errichten eines Aussichtsturmes. Erst nach der Mühe des Bauens zeigt sich, ob sie es wert war — ob also der Überblick über das Gesamte ein anderes, besseres Verständnis seiner Gestalt, seiner Struktur, seiner inneren Zusammenhänge und der Bedeutung seiner Teile erbracht hat oder nicht.

Die Aufschlüsselung des Gesamtgefüges Sehen, denke ich, ergibt solche neuen Einsichten. Der Überblick über die inneren Zusammenhänge des Sehens macht anschaulich, wie allgemeinste Sehfähigkeiten zunehmend spezielle bedingen, wie einfachste visuelle Phänomene in zunehmend komplexen Bedeutungsaspekten aufgehen und dabei doch immer das gleiche, dreidimensionale Muster ausprägen.

Das Gesamtgefüge Sehen: Auf einfachen visuellen Phänomenen bauen komplexere auf – wobei das Grundgerüst dreier Merkmale auf jeder Komplexitätsstufe erhalten bleibt.

Mit dem begrifflichen Instrumentarium einer systematischen Theorie des Visuellen werden die grundlegenden, ineinander verschachtelten Bedeutungspotentiale eines jedweden Anblicks in der Tiefe transparent, genauer beschreibbar und leichter verständlich.