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Die gegenläufige Beziehung von Generalität und Spezifität

Eine kurze philosophiegeschichtliche Einordnung

Um den Begriff Sehen systematisch abgestuft in Einzelfähigkeiten zu gliedern, hatte ich oben seine Generalisierung und seine Spezifizierung einander gegenübergestellt: Hier die generelle Anwendbarkeit von „Sehen“ auf alle, einige, einzelne Wesen; dort die spezielle Unterscheidbarkeit des Sehens von allen, einigen, einzelnen anderen Wahrnehmungsarten.

Diese Doppelbeleuchtung eines Begriffs ist nicht neu und auch nicht sehensspezifisch. Sie entspricht der Unterscheidung von Extension/Intension (oder auch: Denotation/Konnotation, Umfang/Inhalt) in philosophischen und linguistischen Untersuchungen zur Logik von Begriffsbildungen, welche zum Teil bis in die Antike zurückreichen.

Dabei entspricht insbesondere die Herangehensweise, Generalisierung und Spezifizierung in eine reziproke Beziehung zu setzen, einer in der philosophischen Logik seit langem untersuchten, definitionstheoretischen Regel.

Die gegenläufige Beziehung von Generalität und Spezifität
(oder auch Extension/Intension; Denotation/Konnotation; Umfang/Inhalt)

Diese Reziprozitätsregel lässt sich so formulieren:

Ein Begriff umfasst umso mehr Phänomentypen, je weniger Merkmale zu seiner Definition gebraucht werden, und umgekehrt.

Am Extrem veranschaulicht: Jeder denkbare Phänomentyp muss mindestens ein Merkmal besitzen, weil er ohne Merkmale nicht als eigenständiger Phänomentyp denkbar wäre; und höchstens ein einziger Phänomentyp kann alle denkbaren Merkmale besitzen, nämlich die Welt als Ganzes, oder genauer: der Phänomentyp „Menge aller denkbaren Welten“.

Nach der Reziprozitätsregel kann jedweder Begriff definiert werden, indem man seine Anwendbarkeitfälle (Bedeutungsmöglichkeiten) in allgemeinere und besondere einheitlich auffächert. Die Menge der Bestimmungsmerkmale muss dazu mit dem allgemeingültigsten begonnen und dann schrittweise verschachtelnd um ein je spezielleres Merkmal vermehrt werden, bis der Begriff nur noch auf einen einzigen Phänomentypen anwendbar wird – wie zum Beispiel in unserem Falle auf den Phänomentypen „individuelles Sehen“, „individuelle Sichtweise“. Die Regel besagt also, wie Begriffe sich genau, nämlich so einfach wie möglich und so komplex wie nötig, definieren lassen.

Sie wird häufig zurückgeführt auf eine im 3. Jahrhundert von Porphyrios von Tyros formulierte Klassifikationsmethode und oft unter dem Schlagwort Porphyrianischer Baum (Arbor porphyriana) anschaulich gemacht.

Darstellungen des Porphyrianischen Baumes aus verschiedenen Epochen

Verstärkt aufgegriffen wurde die Reziprozitätsregel seit dem Erscheinen des Buches „La Logique ou l‘Art de Penser“ von 1662, der sogenannten „Logik von Port-Royal“, in welchem die Unterscheidung von Inhalt und Umfang geprägt worden war („le compréhension & l‘étendue“) [1]. Zu diesem Schlüsseltext der abendländischen Philosophiegeschichte stellt Willem Remmelt de Jong unter der Überschrift „The Inverse Relation between Intension and Extension“ allerdings fest:

„The Art of Thinking is still not very explicit on this matter. Leibniz […] and Kant are already much clearer.“ [2]

De Jong verweist dazu auf den von Gottfried Wilhelm Leibniz 1704 verfassten Band „Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“:

„Denn sage ich: Jeder Mensch ist ein lebendes Wesen [im französischen Original: animal], so will ich sagen, dass alle Menschen unter die lebenden Wesen fallen, aber ich verstehe zugleich darunter, dass die Vorstellung des lebenden Wesens in der des Menschen inbegriffen ist. Lebendes Wesen umfasst mehr Individuen als Mensch, aber Mensch umfasst mehr Vorstellung oder mehr Formelles [plus de formalités]; das eine hat mehr Exemplare [exemples], das andere mehr Realitätsstufen [plus de degrés de réalité]; das eine hat mehr Umfang [extension], das andere mehr Inhalt [intensité]. Man kann auch der Wahrheit gemäss sagen, dass die ganze Lehre vom Schluss [doctrine syllogistique] durch die Lehre de continente et contento, d.h. von dem Enthaltenden und dem Enthaltenen, bewiesen werden könnte, welche von der Lehre vom Ganzen und Theil verschieden ist, denn das Ganze ist immer größer als der Theil, aber das Enthaltende und das Enthaltene sind sich mitunter gleich, wie in den reciproken Sätzen der Fall ist.“ [3]

sowie auf „Immanuel Kants Logik“ aus dem Jahr 1800:

„Inhalt und Umfang der Begriffe.
Ein jeder Begriff, als Theilbegriff, ist in der Vorstellung der Dinge enthalten; als Erkenntnißgrund, d.i. als Merkmal sind diese Dinge unter ihm enthalten. – In der erstern Rücksicht hat jeder Begriff einen Inhalt; in der andern, einen Umfang.
Inhalt und Umfang eines Begriffs stehen gegen einander in umgekehrtem Verhältnisse. Je mehr nemlich ein Begriff unter sich enthält, desto weniger enthält er in sich und umgekehrt.“ [4]

Während die Reziprozitätsregel im Laufe des 19. Jahrhunderts einerseits zum festen Bestandteil philosophischer Lehrbücher wird – etwa in Joseph Becks seit 1841 vielfach neu aufgelegtem „Philosophische Propädeutik“ [5] – intensivieren sich andererseits zur selben Zeit Diskussionen darüber, inwieweit sie als gültig angesehen werden könne oder eventuell eingeschränkt, präzisiert werden müsse.

So findet sich 1837 in Bernard Bolzanos „Wissenschaftslehre“ „Ueber den Kanon, daß Inhalt und Umfang in verkehrtem Verhältnisse stehen“ die kritische Bemerkung, dass auch bei Kant „gar wichtige Mängel sich finden“, und dass man sich hierzu einen “Mangel an Genauigkeit“ ganz allgemein, nämlich „seit der Erscheinung der Ars cogitandi beinahe in allen Lehrbüchern der Logik zu Schulden kommen läßt“ [6]. Bolzanos anschließende Erörterungen zielen bereits auf einige der mathematischen sowie der semantisch-logischen Implikationen der Reziprozitätsregel ab, die in den sich zunehmend ausdifferenzierenden sprachanalytischen Forschungsfeldern noch über hundert Jahre später Diskussionsstoff geben werden.

1865 fügt der Philosoph und Semiotik-Begründer Charles Sanders Peirce der Thematik einen neuen Aspekt hinzu, indem er die Zusammenschau von Extension und Intension (letztere bei Peirce „comprehension“) ihrerseits als ein notwendiges drittes Relatum entsprechender Zeichentypen beschreibt – als „Information“:

„Hence, we may conveniently alter the formula for the relations of extension and comprehension; thus, instead of saying that one is the reciprocal of the other, or:

comprehension x extension = constant

we may say:

comprehension x extension = information

We see then that all symbols besides their denotative and connotative objects have another; their informative object. The denotative object is the total of possible things denoted. The connotative object is the total of symbols translated or implied. The informative object is the total of forms manifested and is measured by the amount of intension the term has, over and above what is necessary for limiting its extension. For example the denotative object of man is such collections of matter the word knows while it knows them i.e. while they are organized. The connotative object of man is the total form which the word expresses. The informative object of man is the total fact which it embodies; or the value of the conception which is its equivalent symbol.“ [7]

In der Philosophie der nachfolgenden Jahrzehnte wird das Inversverhältnis von Extension und Intension zunehmend formalisiert und in den 1970er Jahren für die Klassenlogik von Paul Weingartner reformuliert:

„Je umfangreicher die Intension, desto kleiner die Extension und umgekehrt. […] Mit dem Aufkommen der modernen Logik wurde die Allgemeingültigkeit dieser Regel auf verschiedene Weise angezweifelt. Der Grund dafür lag in der erwähnten Unbestimmtheit des Begriffs der Intension und in der Vielzahl der Möglichkeiten, ihn in die formale Sprache eines Logikkalküls zu übersetzen. Den ersten erfolgreichen Versuch zu einer solchen Übersetzung unternahm Paul Weingartner. Weingartner konnte zeigen, dass „bei entsprechender Definition des intensionalen Enthaltenseins“ die oben formulierte Grundregel ein Theorem der Klassenlogik darstellt.“ [8]

Wissenschaftstheoretisch präzisiert Christian Thiel 1989 die Geltungs-bedingungen des „Kontragredienzgesetzes“, mit einem Verweis auf den Mathematiker Gottlob Frege:

„Die Geltung des „Kontragredienzgesetzes“ vom reziproken Verhältnis von Inhalt und Umfang eines Begriffs (je größer der Inhalt, desto kleiner der Umfang und umgekehrt) ist umstritten. Sie lässt sich im Grunde nur für die Verhältnisse innerhalb von „Begriffspyramiden“ („Porphyrschen Bäumen“ […]) beanspruchen, in denen jeder der einem Begriff P unmittelbar untergeordneten Begriffe Q1,...,Qm durch Aufnahme eines jeweils neuen, weniger Gegenständen als ganz P zukommenden Merkmals entsteht. […] Als „oberste Begriffe“ beliebiger Begriffspyramiden galten in der Tradition allgemeinste Begriffe („Kategorien“), an der Basis dachte man sich als unterste Begriffe sogenannte Individualbegriffe, deren erreichte Merkmalsvielfalt bewirkt, daß nur noch jeweils genau ein Gegenstand unter einen solchen Begriff fällt, der dann also als Individuum charakterisiert wird. Wiederum ist es erst Frege gewesen, der in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Gründe dafür aufgewiesen hat, Individualbegriff und darunter fallendes Individuum streng auseinander zuhalten, ein Vorschlag, dem heute weitgehend gefolgt wird […]“ [9]

Für die Linguistik des 20. Jahrhunderts führt Theodor Lewandowski Erörterungen bei Frege, Carnap, Quine 1994 gleichwohl wieder in der klassischen Form zusammen:

„Extension und Intension, d.h. Umfang und Inhalt eines Begriffs stehen zueinander in umgekehrt proportionalem Verhältnis. Je größer die Extension eines Begriffs ist, desto geringer ist seine Intension und umgekehrt.“ [10]

Einige Argumentationen aus der Geschichte dieser Debatte werde ich später aufgreifen, um anhand ihrer zu beschreiben, ob bzw. inwieweit sie die Klärung des Begriffs Sehen betreffen.


Quellen

[1] Arnauld, Antoine / Pierre Nicole: „La Logique ou l‘Art de Penser“, (1662/1763 Nouvelle Edition, revue & corrigée), I. Partie, Chapitre VI., S. 31

[2] de Jong, Willem Remmelt: „The Semantics of John Stuart Mill“, („De semantiek van John Stuart Mill“, Amsterdam 1979/Dordrecht 1982), Chapter 3 (3.7), S. 68

[3] Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“, („Nouveaux Essais sur l‘entendement humain“, verfasst 1704, erstmalig erschienen 1765, hier zitiert Berlin 1873) Viertes Buch, S. 549f.

[4] Kant, Immanuel (Jäsche, Gottlieb Benjamin Hg.): „Immanuel Kants Logik“, (Königsberg 1800), I., §7, S.48f.

[5] Beck, Joseph: „Philosophische Propädeutik“ (1841, 1. Auflage), §§ 145, 146, S.94f.

[6] Bolzano, Bernard („Herausgegeben von mehreren seiner Freunde“): „Dr. B. Bolzanos Wissenschaftslehre“, (Sulzbach 1837), § 120, S.568

[7] Peirce, Charles Sanders: „Grounds of Induction“, Harvard Lecture 10 (1865), aus: „Writings of Charles S. Peirce: A Chronological Edition“ Vol.1, S.276

[8] Wikipedia (dt. 01/2016): „Extension und Intension > „Inversverhältnis von Intension und Extension“, darin zitiert Weingartner, Paul: „A Predicate Calculus for Intensional Logic“. (In: Journal of Philosophical Logic 2, 1973), S.220–303

[9] Seiffert, Helmut / Radnitzky, Gerard (Hg.): „Handlexikon zur Wissenschaftstheorie“ > Begriffspyramiden, (1989/1994 2. Auflage), S.12

[10] Lewandowski, Theodor: „Linguistisches Wörterbuch“ > Extension, (1975/1994 6. Auflage), S.291

Alle Hervorhebungen folgen dem Original.