Helligkeits- und Farbunterschiede zu empfinden, Tiefe und Räumlichkeit wahrzunehmen, Gegenstände und Gegenstandsklassen zu unterscheiden, Hinweise und Bilder zu erkennen, Gesten und Symbole zu verstehen – ist alles das Sehen?
Wenn ja: Was zählt noch zum Sehen?
Wenn nein: Was zählt nicht dazu? Und warum nicht?
Der Begriff Sehen wird sehr oft gebraucht.
Dabei ist unklar, was er eigentlich bedeutet.
Weder in der Alltagssprache noch in den Fachsprachen ist der Begriff Sehen klar entwickelt.
In der Alltagssprache wird eine unbestimmte Zahl ganz verschiedener Wahrnehmungs- und Deutungsfähigkeiten als „Sehen“ bezeichnet. Mit „Sehen“ kann die bloße Aufnahme von Lichtreizen gemeint sein, oder verschiedene Arten der Selbstverortung und Navigation, oder das Abgleichen gegenwärtiger Anblicke mit Erinnertem und Erdachtem, oder das Ausdeuten sichtbaren Verhaltens und seiner Spuren, oder das Interpretieren und Bewerten von Phänomenen visueller Kultur – und vieles andere mehr.
Lichtempfinden, Navigieren, Erkennen/Erinnern, Verstehen – und was noch?
„Sehen“ umfasst eine unbestimmte Menge von Erkenntnisaspekten.
Man kann daher fragen: Welche und wieviele Sehfähigkeiten lassen sich plausibel voneinander unterscheiden? Was kennzeichnet ihre spezifischen Phänomene? Und wie bilden diese miteinander den Zusammenhang des Sichtbaren?
Auch die Fachliteraturen der Wissenschaften und Kunstvermittlung, die sich mit Sehen und Sichtbarkeiten befassen, geben auf diese Fragen keine umfassende Antwort. Vielmehr reduzieren die verschiedenene Fachrichtungen visuelle Wahrnehmung methodenbedingt auf je spezielle Aspekte – im wesentlichen auf entweder körperliche oder verhaltensbetreffende oder kommunikative Aspekte.
Eine einheitlich geordnete Übersicht, die die gesamte Vielfalt visueller Wahrnehmungsfähigkeiten und Phänomene in einem systematischen Spektrum zusammenführt, ist bisher nicht zu finden.
Eine allgemeine, grundlegende Theorie des Sehens fehlt.
Wie könnte, wie sollte sie aussehen?