Ich stand in meinem Zimmer und stellte mir eine wichtige Frage:
Welche Arten von Bildern sind bereits gemalt worden – und welche hat noch niemand gemalt?
Die Frage war für mich nicht bloß theoretisch interessant. Ich war 16 und hatte vor, Künstler oder Comic-Zeichner zu werden, oder am besten beides. Die Frage nach der Menge möglicher Bilder schien mir deshalb wichtig für die praktische Arbeit.
Zum Glück war in meinem Zimmer das notwendige Anschauungsmaterial vorrätig: Die Kunstbücher und Ausstellungskataloge, die meine Großmutter hinterlassen hatte; etwa zehn Jahrgänge der reich bebilderten schweizer Kulturzeitschrift „Du“ aus der späteren Jugend meiner Mutter; und gute fünf Meter selbst erworbener französischer, belgischer, amerikanischer Comics. Die vollständige Welt der Bilder also.
Mit diesem Archiv würde es ein Leichtes sein, sich die Frage nach den gemalten und den ungemalten Bildern zu beantworten. Man musste ja lediglich die Vielfalt der vorhandenen Gemälde, Zeichnungen, Drucke, Photos in ihre elementaren Merkmale zerlegen und dann schauen, welche visuellen Molekularverbindungen im Laufe der letzten Jahrtausende irgendwo auf dem Erdball schon hergestellt worden waren und welche nicht.
Man musste also einfach eine Theorie der Bilder verfassen.
Ich nahm ein paar Buntstifte und ein Blatt Papier und begann, in Text und Skizzen alle erdenklichen Stilmerkmale aufzulisten und systematisch zu ordnen. Das ging prima, schließlich kannte ich mich in meinem Bücherbord gut aus. Nach kaum zwei Stunden war die Theorie fertig.
Leider hatte sie ergeben, dass fast alles Mögliche schon gemalt worden war. Das letzte Neuland wäre eine etwas komplizierte Art halbungegenständlicher Bilder gewesen, und halbungegenständlich zu malen, fand ich sehr langweilig. Für Comics war es ganz und gar ausgeschlossen.
Noch problematischer an meiner Theorie aber fand ich bald etwas anderes: Sie war anderen nicht gut zu vermitteln. Dem einen leuchtete dies nicht ein, der andere verstand jenes nicht, mancher begriff Sinn und Zweck des ganzen Vorhabens nicht. Nach und nach musste ich den Gedanken an mich heranlassen, dass sich beim Aufschlüsseln der Bildmöglichkeiten – bei der Übertragung des allwissenden Bücherregals auf meinen Theorie-Zettel – womöglich irgendein Fehler eingeschlichen haben könnte. Ja, ich musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, die Theorie sei vielleicht nicht ganz perfekt.
Vom Malen gegenständlicher Bilder und Comics habe ich mich durch meine umstrittenen Forschungsergebnisse dann allerdings nicht abbringen lassen. Und so waren es am Ende nicht die Antworten, sondern die Fragen, die die Theorie ergeben hatte, welche mir nicht mehr aus dem Kopf gingen.
Später habe ich daher versucht, sie noch einmal stark zu überarbeiten. Diesmal dauerte es zwanzig Jahre.
Hier ist die neue Version.
Felix Reidenbach
April 2016