Einleitung
 

Nicht fragen, was Sehen ist, sondern ob Sehen ist

Das Sehen systematisch zu beschreiben – Begriffe visueller Einzelaspekte zu systematisieren – hieße: Detailbegriffe in Bezug zu einem vorausgesetzten, äußersten, verbindenden Ganzen zu setzen – eben: „dem Sehen“. Das Sehen und seine Phänomene aber als ein solches Ganzes theoretisierend klären zu wollen, bedeutet, es als Ganzes erst einmal in Frage stellen zu müssen. Man muss im Grunde nicht nur fragen, was Sehen ist, sondern fragen, ob Sehen ist. Ob diesem unüberschaubar facettenreichen Sammelbegriff überhaupt wirklich ein eigener, erkennbarer Erfahrungszusammenhang entspricht.

Um „das Sehen“, „das Sichtbare“ systematisch als einen Gesamtzusammenhang suchen zu können, muss man es also befremdlicherweise als etwas Hypothetisches behandeln, als etwas – und das widerspricht jeder Intuition –, dessen Existenz infrage steht und erst „nachgewiesen“ werden muss, indem die konkreten, aber verstreuten Anhaltspunkte, die für sie sprechen – visuelle Erfahrungen – so zusammengeführt werden, dass auf die Gestalt eines Ganzen begründet geschlossen werden kann, welche mit den Erfahrungen verträglich ist und über diese zugleich qualitativ hinausgeht.

Das Sehen im Ganzen zu hinterfragen, stellt also ein Problem dar, zu dessen Lösung die intuitiv und vereinbarungsgemäß verlässlichste Quelle von Indizien, Belegen, Vergewisserungen zugleich angewandt und vorläufig negiert werden muss.

Ein solch paradoxer Ausgangspunkt ist nicht nur schwer verträglich mit den meisten der etablierten Begriffsinstrumentarien. Er steht nicht nur im Widerspruch zu Sitten und Gebräuchen im Gewinnen und Vermitteln von Wissen. Der Versuch einer grundlegenden Beschreibung des Sehens rührt vielmehr an einem, zugespitzt ausgedrückt, Tabu, das nicht erst auf der Ebene des Dialogs und der Objektivierung entsteht, sondern, tiefer, schon auf der Ebene des einzelnen Subjekts und den Fundamenten seiner Heuristik.

Das Sehen als Ganzes in Frage zu stellen, erscheint denkbar kontraintuitiv. Das Vorhaben „Theorie des Sehens“ mutet an wie eine „Theorie des Selbstverständlichen“ – zugleich trivial und paradox.

Sich der Mittel der Gewissheit zu vergewissern, ist ein umständliches und fragwürdiges Unterfangen. Zwar teilt die Frage nach dem Sehen ihr tiefgreifendes Problem mit den Aporien aller „letzten Fragen“ zur Erkenntnis. Vielleicht aber wirkt es sich im Falle des Sehens in besonders verschärfter Weise aus, eben weil subjektiv nichts Gewisseres als das Sichtbare vorstellbar erscheinen kann, und das Sehen daher besonders schwierig überhaupt als ein Problem zu erkennen ist.

Insofern lässt sich das tieferliegende Problem, das als Erklärung für den Theoriemangel in Frage kommen könnte, also möglicherweise schlicht so beschreiben: Das Fehlen einer systematischen Theorie des Sehens ist naturgemäß nahezu unsichtbar. Denn „man sieht doch, dass man sieht und was man sieht.“