Zur zweiten Frage: „Welche und wieviele Sehfähigkeiten soll der Begriff „Sehen“ umfassen?“
Hierzu verdeutlicht die Ausgangsdefinition: Das, was Sehfähigkeiten voneinander unterscheidet, sind nicht ihre Träger, sondern die Phänomene, die mit ihnen wahrgenommen werden – die deutbaren Sichtbarkeiten. Die Ausgangsdefinition führt das allgemeinste – das heißt: einfachste – Beispiel von Sichtbarkeiten an – Helligkeitsunterschiede – und erklärt diese zu „deutbaren Bedingungen von Verhaltensmöglichkeiten“. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten: Weniger allgemeine Sehfähigkeiten werden sich voneinander unterscheiden lassen, wenn man begründet darstellen kann, warum welche weniger einfachen, sprich: komplexeren Blickfeldstrukturen je welche Deutungs- und Verhaltensweisen ermöglichen. Dieses von vornherein deutungs- und verhaltensorientierte Verständnis von Sehfähigkeiten wird zwar nicht im selben Grade spezifisch visuell bleiben können wie die ursprüngliche Reduktion auf Tonwertwahrnehmung. Und es dürfte sich sogar, bei absehbar zunehmend komplexeren Phänomenen wie Raum, Gegenstandsklassen, Abbildern usw. von der absoluten Sehensspezifik des Phänomens Hell-Dunkel-Unterschied nach und nach immer weiter entfernen. Solange aber die Deutung eines komplexeren Phänomens letztlich auf einfache Tonwertstrukturen zurückgeführt werden kann, muss die Fähigkeit zu dessen Deutung auch als eine Sehfähigkeit gelten. Und das heißt: Die Theorie muss auch bei der absolut sehensspezifischen Fähigkeit nicht stehenbleiben. Denn auch die Spezifizierung des Begriffs Sehen läßt sich abstufen.
Auch die Spezifizierung des Begriffs Sehen läßt sich abstufen.
Vertikale Mengen von links nach rechts: Einfache und komplexere Sehfähigkeiten (vergröbernd abgestuft in Tonwertsehen, Tiefen/Raumsehen, Gegenstandsklassifikation, visuelle Kommunikation)
Die Ausgangsdefinition lässt demnach begründet vermuten: Generalität und Spezifität des Begriffs Sehen sind graduierbar – das Sehen lässt sich graduell in Sehfähigkeiten gliedern.
Sehen muss nicht als eine in all ihren Ausübungen gleiche Fähigkeit begriffen werden. Und Sehen muss auch nicht gegenüber anderen Fähigkeiten als eine absolut spezielle Fähigkeit abgegrenzt werden. Vielmehr wird Sehen sich in einzelne Sehfähigkeiten systematisch gliedern und abstufen lassen, indem diese anhand verschiedenartiger Blickfeldstrukturen in einfachere bzw. komplexere unterschieden und in mehr oder weniger allgemeine bzw. besondere geordnet aufgereiht werden.
Im Zusammenhang betrachtet kann die Theorie aus diesen beiden Aspekten ihren Weg planen und ihr Ordnungssystem entwickeln. Es lässt sich auf die einfache Formel bringen: