Fragestellung und Methode
 

Wie lässt sich visuelle Komplexität bestimmen?

Der Komplexitätsgrad visueller Phänomene ist zunächst – definitionsgemäß – unmittelbar an den Tonwert-Strukturen des Blickfeldes ablesbar. Ein Blickfeld, das nur einen Tonwert zur Zeit enthält, ist äußerst einfach, ein Blickfeld mit zwei Tonwerten schon etwas komplexer. Diese Erstabstufung von Komplexität ergibt sich aus der Ausgangsdefinition, weil in ihr Sehen in seiner einfachsten Art ja am Unterscheiden von Tonwerten festgemacht wird.

Die Ausgangsdefinition sagt allerdings ebenfalls, dass Sehen nicht ausschließlich heißt, Tonwerte – sprich: Helligkeitsunterschiede – zu erkennen. Sehen, auch bereits in seinen einfachsten Arten, heißt zudem, Bedeutungen zu erkennen und diese handelnd zu nutzen.

Die Theorie müsste (und wird) deshalb zeigen, dass und wie eine zunehmende Zahl von Tonwerten eine zunehmende Zahl spezieller Bedeutungen und Handlungen ermöglicht. Drei Tonwerte zB. lassen sich als verschiedene Typen von Verdeckung deuten und in entsprechende Tiefenbewegungen umsetzen. Aus vier und mehr Tonwerten entstehen Bedeutungsmöglichkeiten wie Licht, Oberflächen, Raum, Gegenstandsklassen, mit wiederum je besonderen Handlungsoptionen.

Entscheidend für den Komplexitätsgrad eines Blickfeldes ist also nicht dessen Auflösung in wenige oder viele Tonwertbereiche. Entscheidend ist die Zahl der Deutungsmöglichkeiten, die in den Blickfeldstrukturen erkannt werden können.

Im Verlauf der Steigerung der Komplexität treten daher die bloßen Tonwerte und ihre Konstellationen nach und nach in den Hintergrund und werden zunehmend die Unterscheidungen der im Blickfeld enthaltenen Bedeutungen relevant.

So sind etwa Anblicke wie „Mensch schläft“ und „Mensch imitiert Schlaf“ nicht hinsichtlich ihrer Tonwertstrukturen unterschiedlich komplex. Der zweite Anblick ist aber insofern komplexer, als dort im körperlichen Verhalten des Menschen nicht nur ein Handlungstyp erkannt wird – das Schlafen –, sondern auch noch ein zweiter – das Imitieren.

Zunehmende Blickfeld-Komplexität (Beispiele):

Einton-Blickfeld

Zweiton-Blickfeld

Sechston-Blickfeld

Blickfeld mit vielen Tonwerten

Blickfeld mit vielen Tonwerten und Schlagschatten

Blickfeld mit Schatten, Verdeckungen und räumlicher Perspektivität

Raum mit verschiedenen Körpern

Spezieller Körpertyp mit differenzierter Körperform und Pose (Gorilla)

Körper imitiert anderen Körpertyp (Mensch imitiert Gorilla)

Die Reihe dieser Beispiele ist nicht systematisch, denn sie soll nur die vortheoretisch getroffene Festlegung veranschaulichen, dass visuelle Komplexität sich nicht in bloßer Tonwertvielfalt bemisst, sondern in der Bedeutungsvielfalt, die ein Blickfeld bietet.

Trotz ihrer Entfernung von den einfachsten Grundbausteinen des Sehens bleiben auch hochkomplexe Phänomene als spezifisch visuelle darstellbar und beschreibbar. Auch eine komplexe Unterscheidung wie die von Handlungstypen lässt sich, da sie mit bloßem Auge getroffen werden kann, aus einfacheren visuellen Unterscheidungen herleiten und in ihren Sichtbarkeitsbedingungen bis in elementare Blickfeldmerkmale zurückverfolgen.