Einleitung
 

Was am Sehen unverstanden ist

Unter den Arten der menschlichen Wahrnehmung gibt es wohl keine, die mehr Gewissheit erzeugt, als das Sehen. In Wörtern wie „offensichtlich“, „Einsicht“, „evidence“ (im juristischen Sinne von Beweis), in Wendungen wie „Ich glaube nur, was ich sehe“, „Seeing is Believing“, 百聞不如一見 („Hundert Mal hören kommt einem Mal sehen nicht gleich“), العقل للرؤية , والقلب للاستماع („The Mind is for Seeing, the Heart is for Hearing“), und auch in Begriffen für wissensüberschreitende Erkenntnis wie „Erleuchtung“, „clairvoyance“, „hellseherische / visionäre Fähigkeiten“, oder der Metapher vom „Dritten (oder Inneren) Auge“ zeigt sich: Das Sichtbare als besonders verlässliche Vergewisserung von Wirklichkeit zu empfinden, ist in menschlichen Kulturen tief verwurzelt.

Die starke Identifikation von Sichtbarkeit und Gewissheit ließe vermuten, das Sichtbare müsse eine denkbar klare Sache sein. Man sollte annehmen: Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der Menschen die angeborene Fähigkeit Sehen anwenden, müsste es ebenso selbstverständlich sein, das Sehen und seine Phänomene beschreiben, benennen, begrifflich überblicken zu können.

So ist es allerdings nicht. Tatsächlich ist es unklar, was unter „Sehen“ überhaupt verstanden werden kann.

Betrachtet man nur einige verschiedene Lebewesen beim Ausüben ihres Sehens, wird deutlich: Von „dem“ Sehen kann kaum die Rede sein. Verschiedene Lebewesen sehen verschieden.

Nicht alle sehenden Wesen sehen dieselben Farben. Nicht alle sehen in derselben Auflösung Formen und zeitliche Veränderungen. Nicht alle sehen in derselben Weise Tiefe und Raum. Nicht alle sehen dieselben Klassen von Gegenständen und Prozessen. Nicht alle praktizieren überhaupt oder in derselben Weise visuelle Kommunikation. Nicht alle scheinen Bilder zu erkennen oder gar herzustellen. Nicht alle navigieren sehend in Bedeutungsebenen von Kultur und Gesellschaft.

Darüber, welche Sehfähigkeiten ein Lebewesen entwickelt, können verschiedenste Eigenschaften entscheiden: Die biologische Gattungszugehörigkeit, das Lebensalter, die kulturelle und soziale Herkunft und vieles andere mehr. Man kann allerdings durch solche nicht-visuellen Subjekt-Merkmale nicht einfach verschiedene Arten des Sehens definieren. Denn es mögen zwar einige Sehensunterschiede mit andersartigen Wesensunterschieden zusammenfallen, meistens aber liegen die beiden quer zueinander.

Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Der Begriff Sehen hat viele verschiedene Bedeutungen und Anwendungen. Er umfasst eine ganze Reihe verschiedener Sehfähigkeiten. Und wieviele und welche dies sind, ist alles andere als gewiss.

So viel Gewissheit das Sehen selbst also zu geben scheint, so wenig lässt sich mit Gewissheit sagen, was Sehen eigentlich ist.