Angesichts der Vielzahl verschiedener Anwendungen des Begriffs Sehen fragt sich, was unter diesem Begriff sinnvollerweise alles verstanden werden kann.
Wieviele und welche Sehfähigkeiten lassen sich plausibel voneinander unterscheiden? Welche Phänomene im Wahrnehmen und Denken können als Sichtbarkeiten begriffen werden? Worin genau unterscheiden sie sich voneinander und wie hängen sie miteinander zusammen?
Diese Fragen sind, wie beschrieben, einfach zu begründen und einfach zu formulieren. Dennoch lassen sie sich mit einem bloßem Praxisverständnis des Sehens und in den unscharfen Begriffen der Alltagssprache offenbar nicht beantworten. Der Bereich Sehen ist zu komplex. Um ihn als ein Ganzes überschauen und seine Struktur erkennen zu können, bedarf es einer Schärfung, einer systematischen Bestimmung der Begriffe – einer Theorie.
Auch in den Fachliteraturen aber, in denen eine solche Begriffsklärung zu vermuten wäre, scheint mir die Frage nach dem Sehen bisher nicht beantwortet zu sein. Was meinem Eindruck nach fehlt, ist ein dezidiert umfassender Ansatz zur Beschreibung des Visuellen. Teilbereiche des Sehens sind vielfältig und im Detail erforscht, resultierend in einer großen Menge an Erkenntnissen und Terminologien, die sich bewährt haben und viele Hinweise auf die Gestalt eines Ganzen enthalten. Ein entschieden auf Vollständigkeit angelegtes Spektrum der Sehfähigkeiten und ihrer Phänomene jedoch habe ich bisher weder in Texten der Wissenschaften, noch in denen der Erziehung und Vermittlung von Kunst und Gestaltung gefunden.
Nun lässt sich darüber, warum etwas (wahrscheinlich) nicht existiert, nur mutmaßen. Einige Umstände aber, die als Erklärungen für das Fehlen einer systematischen Theorie des Visuellen in Betracht kommen, geben bereits eine etwas genauere Vorstellung davon, wie sie aussehen könnte. Ich will diese Umstände daher kurz – und entsprechend stark vergröbernd – erörtern.