Einleitung
 

Warum (wahrscheinlich) eine
allgemeine Theorie des Sehens fehlt

Grund 2: Reduktionen des Sichtbaren
in Semiotik und Bildwissenschaft

Die obige Unterscheidung methodenbedingter Reduktionen empirischer Beschreibungen ist, wie gesagt, äußerst grob. Sie wird deshalb den Qualitäten der vielfältig innovativen, interdisziplinären und in der Tendenz zunehmend systematisierenden Ansätze nicht gerecht, die in verschiedenen Bereichen in den letzten zwei Jahrhunderten und noch einmal stark intensiviert in den letzten drei Jahrzehnten erarbeitet wurden.

Was die Unterscheidung außerdem nicht enthielt, sind die diversen Beiträge nicht-empirischer Disziplinen – wie vor allem der Philosophie, Erkenntnistheorie, Kognitionswissenschaft. Diese Bereiche, in denen visuelle Wahrnehmung und zugehörige mentale Aspekte nicht in erster Linie anhand experimentell beobachteter Phänomene beschrieben, sondern reflexiv und begriffskritisch auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin untersucht werden, sind natürlich die eigentlichen Kernfächer systematischer Theoriebildung.

Man kann aber, denke ich, auch die nicht-empirischen Ansätze mit der obigen Gliederung insofern erfassen, als sie sich auf der Grenze zwischen verhaltensbezogenen und kommunikationsbezogenen Beschreibungen verorten lassen – sie in gewisser Weise selbst als deren fließende Grenze verstanden werden können.

Denn sobald Beschreibungen damit beginnen, visuell kommunikatives Verhalten zu erfassen und von nicht-kommunikativem Verhalten abzugrenzen, nehmen sie Phänomene in den Blick, die es ermöglichen und erfordern, empirisch gewonnene Erkenntnisse selbstreflexiv zu relativieren – da diese ihrerseits auf visuell kommunikativem Wege gewonnen werden. Kommunikationsbezogen können und müssen Sichtbarkeitsbedingungen konsequenterweise so untersucht werden, dass auch das kommunikative Verhalten (und Untersuchungsverhalten) der beschreibenden Beobachter selbst beschrieben werden kann: als potentiell geprägt durch spezielle Bedingungen von Kultur, als Anwendung eigens zu berücksichtigender Sehfähigkeiten.

Systematizität kann dabei letztendlich nicht so sehr eine tatsächlich realisierbare Eigenschaft von Beschreibungen sein, als vielmehr lediglich ein Orientierungspunkt an deren Horizont – ein durch theoretische Abstraktion weit ausgelagerter Schwerpunkt der Betrachtung. Erörterungen der philosophischen Ästhetik etwa, die vom Sehen handeln, sind ebenso auf Fallbeispiele konkreter visueller Phänomene angewiesen wie auf ihre verbalsprachlichen Mittel. Auch wenn dabei die Begriffs- und Methodenreflexionen einen möglichst fach- und zeitübergreifenden, einen anthropologischen oder noch allgemeingültigeren Blickwinkel anstreben, bleiben ihre Mittel und Objekte doch letztlich Elemente geschichtlich je einmaliger Kommunikations- und Kulturzusammenhänge und müssen als solche reflektiert werden.

Fließend ist die Grenze zwischen mehr oder weniger empirischen, mehr oder weniger systematisch-theoretischen Beschreibungen des Visuellen noch verstärkt dadurch, dass mit dem Faktor Kultur eine schwierig zu kalkulierende, nämlich frei skalierbare Größe hinzukommt, die sich – eben: theoretisch – vom Maximum zeitlich und räumlich stabiler Sitten einer Globalpopulation bis zum minimalen Extrem der Konventionen eines einzelnen Subjekte-Paartyps an jede erdenkliche Reichweite anpassen lässt.

Systematische Theorie bzw. der Bedarf an ihr entsteht also auf der Grenze zwischen den stärker generalisierenden Ansätzen der Verhaltensforschung und den stärker spezifizierenden Ansätzen der Kommunikationsforschung, weil sich aus dem Problem der Abgrenzung zwischen beiden die Möglichkeit und Notwendigkeit reflexiver Selbstrelativierung ihrer eigenen je mehr oder weniger naturbedingten bzw. kulturbedingten Instrumente ergeben – und zwar unter geschichtlich und gesellschaftlich sich verändernden Bedingungen immer wieder neu ergeben.

Auch die beiden Wissenschaftsgebiete, die ihren Grundanlagen nach der systematisch begriffsreflexiven Perspektive, die ich gesucht habe, am nächsten kommen, liegen in ihrer Praxis in diesem Grenzgebiet von Empirie und Theorie – und auch in ihnen scheinen mir bestimmte reflexionsbedürftige Probleme reduktiver Generalisierung/Spezifizierung des Visuellen bislang noch fortzubestehen. Ich meine die Bereiche Semiotik und Bildwissenschaft / Visualistik / Visual Studies / Visual Culture.

Zwar ist im Ausbau dieser beiden Forschungsgebiete zu Fragen des Visuellen inzwischen ein hochdifferenzierter Diskurs entstanden, der längst andere Disziplinen inspiriert und verändert. Und auch der Befund, dass die darin aktuell offenen Fragen den Bedarf an systematischer Theorie unübersehbar haben werden lassen, wird in verschiedenen Publikationen beider Gebiete geteilt. Mein Eindruck ist aber, dass auch in diesen beiden Bereichen eine als Vollständigkeitsentwurf angelegte Theorie des Sehens – eine Grundlagentheorie des Visuellen – noch nicht entwickelt wurde. Denn auch Semiotik und Bildwissenschaften neigen dazu, in ihren Herangehensweisen das Visuelle auf entweder generelle oder spezielle Aspekte zu reduzieren, ohne bislang den Verbindungen zwischen beiden eine deutliche theoretische Gestalt zu geben, welche eigene, sehensspezifische, sich erst aus der Gesamtbetrachtung ergebende Erkenntnisse offenbaren würde. Was ich damit meine, will ich für beide Felder kurz umreißen: