Während Semiotik mir also einerseits für Fragen des Visuellen begrifflich zu unspezifisch erschien, empfand ich sie andererseits zugleich auch als zu kommunikationsspezifisch, um den nicht-nur-kommunikativen Erfahrungsbereich Sehen in ihren Begriffen nachzeichnen zu können. Das heisst konkreter: als zu sprachspezifisch. In der textdominierten, kaum bebilderten Form nämlich, in der Semiotik weit überwiegend betrieben wurde und wird, bezieht sich Sprache zuallermeist auf Sprachzeichen (oder gar auf Zeichen der formalen Logik) – und zu selten auf Außersprachliches, um systematisch sein zu können. Berücksichtigt man, dass non-verbal visuelle Phänomene immer schon wahrgenommen worden sein müssen, bevor verbal visuelle, das heißt schriftliche Phänomene sie bezeichnen können, wird man erstere im Vergleich zu letzteren als die allgemeineren einstufen. In diesem Sinne erschien mir eine mit Text sich auf Text beziehende Semiotik als zu spezifisch verbal für die eben bei weitem nicht nur graphematisch-verbalen Fragen des Sehens.
Kurz: Das doppelte Anwendbarkeitsproblem semiotischer Terminologie auf Visuelles liegt meinem Eindruck nach im Grunde darin, dass Semiotik ihre Phänomene nicht systematisch als je generellere oder speziellere bestimmen kann, weil sie diese zu oft und zu ungeordnet ihre Erscheinungsform wechseln lässt. Dieser Punkt aber – das durchgehend einheitliche Abstufen eines Spektrums gleichartiger Phänomene in allgemeinere und besondere – scheint mir für jeden Versuch einer Systematisierung zentral zu sein. Er gibt deshalb in meiner Arbeit von Anfang an „Fragestellung und Methode“ vor (siehe das entsprechende Kapitel). Diese geht durchweg von sichtbaren Merkmalen aus und ordnet den gesamten Theorieweg den spezifisch visuellen Komplexitätsabstufungen unter. Die Theorie basiert also nicht auf verbalen Begriffen, sondern auf Typen von Anblicken.