Als absolut sehensspezifisch käme nur eine einzige Fähigkeit in Frage: Die Wahrnehmung von Tonwerten, also von Helligkeits- und Farbunterschieden. Da nur Tonwerte Phänomene sind, die sich nicht auch hören, ertasten, riechen, schmecken, magnetisch, elektrisch spüren oder rein abstrakt vorstellen lassen, ist nur Tonwertwahrnehmung eine absolut spezifisch visuelle Fähigkeit. Man könnte also definieren:
„Sehen ist die Fähigkeit, Helligkeitsunterschiede wahrzunehmen“.
Tonwerte
Diese äußerst enge Definition von „Sehen“ wäre allerdings fragwürdig. Denn was unterscheidet die Fähigkeit Sehen dann von der Fähigkeit eines Photoapparates?
Auch eine Kamera registriert ja in Gestalt von Tonwertstrukturen beispielsweise den Unterschied, ob sich vor dem Objektiv eine Blume oder ein Hammer befindet. Oder die Unterschiede zwischen einer Ebene und einer Kante; zwischen einer Spiegelung und einem Schlagschatten.
Aber „sieht“ die Kamera all diese Phänomene?
Können Kameras sehen?
Die Kamera besitzt zwar die Fähigkeit der Tonwertaufzeichnung, aber keine anderen. Sie kann demzufolge zwischen visuellen und nicht-visuellen Phänomenen keine Beziehung herstellen. Sie kann Tonwertstrukturen nicht als verschiedene Möglichkeiten des Tastens, Riechens, Hörens, Beschreibens und sonstigen Erlebens deuten. Die registrierten Helligkeitsunterschiede sind für sie ohne jede Bedeutung.
Mit der Reduktion des Begriffs Sehen auf die ausschliesslich sehensspezifische Fähigkeit, Helligkeitsunterschiede zu empfinden, würden visuelle Phänomene zu völlig bedeutungslosen Erscheinungen erklärt – und würde dem Blickfeld insgesamt jede Bedeutung abgesprochen. Ein so eingeengtes Verständnis von „Sehen“ wäre sinnlos.
Das heisst: Sehen kann offenbar nicht sinnvoll beschrieben und begriffen werden, wenn man Fähigkeiten des Deutens von ihm ausschließt. Deutungsfähigkeiten aber überschneiden sich mit anderen Arten der Wahrnehmung – sie sind nicht sehensspezifisch. Sie als Bestandteile des Sehens zuzulassen, führt deshalb zu der Ausgangsfrage zurück: Welche und wieviele Fähigkeiten gehören zum Sehen?
Auch der zweite Lösungsvorschlag funktioniert also nicht.