Die Systematik einer Theorie des Sehens liegt also in der Beziehung zwischen den Eigenschaften des Gesehenen (visuelle Phänomene) und den Eigenschaften des sehenden Subjekts (seine visuellen und nicht-visuellen Fähigkeiten).
Dabei sind Sichtbarkeiten und Sehfähigkeiten in gewisser Weise ohnehin zwei Ausdrücke für dieselbe Sache: Wo eine Sichtbarkeit eine Fühlbarkeit bedeutet, ist die entsprechende Sehfähigkeit mit einer bestimmten Fühlfähigkeit koordiniert. Etwas detaillierter formuliert: Zu sagen, Sichtbarkeiten hätten bestimmte Bedeutungsmöglichkeiten, ist eine Aussage über das Objekt des Sehens – das visuelle Phänomen. Man kann aber die „gleiche“, analoge Aussage auch am Subjekt des Sehens festmachen – am sehenden Wesen. Dann würde man sagen: Jeder visuellen Fähigkeit (Sehfähigkeit) entsprechen bestimmte sichtregulierte, nicht-visuelle Fähigkeiten – zum Beispiel bestimmte, mit dem Sehen koordinierte senso-motorische, haptische, kognitiv-klassifikatorische, körperlich-manuelle, kommunikative, visualisierende, sozialisierende Fähigkeiten.
Kurz: Die Frage „Was ist Sehen?“ zu stellen, heißt im Grunde zu fragen: Was weiß man über ein Wesen, wenn man sagt, es habe Fähigkeiten des Sehens?
Um diese Frage grundlegend stellen zu können – und um sie eben allgemein und systematisch zu beantworten – kann man also weder implizit noch explizit, weder alltagssprachlich noch fachsprachlich, von einer bestimmten Art sehendes Subjekt ausgehen. Nicht von einem physikalisch oder biologisch oder psychologisch oder soziologisch vorgefassten Subjektbegriff.
Weder kann man beginnen mit nicht spezifisch visuellen Begriffen für Natur – wie Rezeptor, Neuron, Gehirn, Wirbeltier, Homo Sapiens usw. – , noch enden bei nicht visuell spezifizierten Begriffen der Kultur – wie Kontext, Bildungsgrad, gesellschaftlicher Entwicklungsstand, Rollenbild, Gender oder ähnlichem. Denn all diese Begriffe setzen bereits Vorstellungen von eben dem voraus, was gerade erst geklärt und aufgeschlüsselt werden soll: dem sehenden Subjekt – oder genauer: visueller Subjektivität.
Stattdessen muss man versuchen, das sehende Subjekt im Verlauf der Theorie erst nach und nach, immer differenzierter und immer wieder neu entstehen zu lassen – indem man anhand von Typen visueller Phänomene Sehfähigkeiten unterscheidet und von diesen auf nicht-visuelle Fähigkeiten des Subjekts rückschließt.
Aus den Eigenschaften des Gesehenen – den visuellen Phänomenen – müssen die Eigenschaften des sehenden Subjekts hergeleitet werden – die Beziehung seiner visuellen und nicht-visuellen Fähigkeiten. Und weil die beiden Kriterien zum Unterscheiden dieser beiden Arten von Eigenschaften – Komplexität und Verallgemeinerbarkeit – in einer reziproken Beziehung zueinander stehen, werden der Anfang und das Ende einer übergreifenden Theorie begründbar, die potentiell als Vollständigkeitsentwurf taugt.
Reziproke Beziehung von Eigenschaften
der Objekte (Sichtbarkeiten) und der Subjekte (sehende Wesen)
Es ist also die reziproke Beziehung von Objekteigenschaften und Subjekteigenschaften, die eine systematische Beziehung zwischen den verschiedenen Methoden, das Sehen zu beschreiben, erkennbar machen kann.
Soviel zu den ersten beiden Fragen:
Eine Theorie des Sehens – was soll das sein?
Gibt es das nicht längst?
Nun zur dritten Frage: Wozu soll das nützen?