Was gebraucht wird, um eine theoretische Darstellung des Sehens überhaupt beginnen zu können, ist zunächst eine Definition, die das Sehen so allgemein wie möglich begreift. Diese Ausgangsdefinition muss festlegen:
Was ist mit „Sehen“ in jedem Falle gemeint? Welche Fähigkeiten erkennt die Theorie unbedingt allen Wesen zu, die sie „sehend“ nennt?
Als eine solche Mindestsehfähigkeit kommt natürlich nur eine äußerst einfache in Frage, denn komplexere Fähigkeiten könnten nicht bei allen sehenden Wesen vorausgesetzt werden.
Denkbar einfach und spezifisch visuell ist, wie eben beschrieben, die Fähigkeit, Helligkeitsunterschiede wahrzunehmen. Nun eignete sich diese Fähigkeit zwar nicht für sich allein genommen zu einer Definition des Sehens, aber doch immerhin dazu, mit einer Definition des Sehens zu beginnen. Hinzukommen musste – auch das wurde beschrieben – noch etwas anderes: Deutungsfähigkeit.
Von diesem Punkt aus lässt sich nun weitergehen.
Wenn die Fähigkeit, Helligkeitsunterschiede zu empfinden, in irgendeinem Sinne als Wahrnehmungsfähigkeit eines Subjekts verstanden werden soll, muss das Subjekt nicht nur Helligkeitsunterschiede, sondern auch deren Beziehung zu anderen Unterschieden wahrnehmen können. Für ein Wesen, das „sehend“ genannt werden soll, muss der Unterschied „Hell/dunkel“ zum Beispiel Unterschiede bedeuten können wie: „näher/ferner“, „Ebene/Kante“, „rauh/glatt“ oder irgendwelche anderen Unterschiede.
„Hell/Dunkel“ in der Bedeutung von
(1) „matt/glatt“
(2) „senkrecht/waagerecht“
(3) „ferner/näher“
Nur wenn Tonwertstrukturen als nicht beliebige, sondern korrespondierende Begleiterscheinungen anderer sinnlicher, emotionaler, gedanklicher Phänomene begriffen werden, können Sichtbarkeiten als Deutungsbedingungen und kann Sehen als Wahrnehmen verstanden werden – als das Erfahren irgendeiner vom gegenwärtigen Zustand ausgelösten Erwartung. Erst durch das In-Beziehung-Setzen visueller und nicht-visueller Empfindungen kann das Jetzt vom Dann, das Hier vom Dort, und das Ich vom Nicht-Ich sehend unterschieden werden.
Was zu der geforderten Minimaldefinition des Sehens also hinzukommen muss, ist die Fähigkeit, Helligkeitsunterschiede als andersartige Unterschiede zu deuten.
Wäre diese etwas erweiterte Beschreibung als Ausgangsdefinition von „Sehen“ tragfähig?